Quelle: Rüsselsheimer Echo / Lokales Mittwoch, 05. August 2020
Rüsselsheim - Manchmal gibt es Umstände im Leben, deren Einfluss man erst rückblickend richtig versteht. Roza Söylemez zum Beispiel wäre heute vielleicht frischgebackene Juristin, wenn da nicht dieser Tag in der elften Klasse gewesen wäre. "Meine Ethik-Lehrerin Frau Jung hat uns von einem neuen Projekt in der Stadtbücherei erzählt", erinnert sich die 23-Jährige. Ein Leseclub für Kinder, ob sich jemand vielleicht interessieren würde, dort die Betreuung zu übernehmen? "Ich bin sowieso ein- und ausgegangen in der Bücherei zu dem Zeitpunkt - warum also nicht?", so Söylemez.
2014 beginnt sie, eigene Gruppen zu leiten, animiert Kinder aus dem Flüchtlingswohnheim nahe der Bücherei, den Club auszuprobieren und sucht in ihrer eigenen Nachbarschaft nach potenziellen Leseratten. 2015 macht sie Abitur und fängt an, Jura zu studieren. Glücklich ist sie nicht. "Ich saß da und dachte: ,Ich bin keine Juristin'." Nach zwei Semestern bricht sie ab - mit einer guten Alternative: Erziehungswissenschaften an der Frankfurter Goethe-Uni. Mittlerweile ist sie im dritten Master-Semester. "Ich studiere das wegen des Leseclubs", sagt sie. Die Arbeit mit jungen Menschen macht ihr Spaß. Vor allem aber ist sie gut darin. Eva Süßmilch, stellvertretende Leiterin der Bücherei, findet das auch: "Sie hat ein Talent dafür und vielen Kindern Zugang zu der Einrichtung ermöglicht. In dem Jahr, in dem hier viele Geflüchtete ankamen, war sie unglaublich aktiv." Wer mit Roza Söylemez spricht, weiß, wieso der Leseclub mit ihrer Arbeit so viel gewonnen hat: Ungeheuer sympathisch und offen berichtet sie von den Kindern, von Erfolgserlebnissen und der Erfüllung, die sie dank des Engagements in der Leseförderung erfährt. "Es gibt richtige Leseverweigerer", weiß die junge Frau, die auch ab und an bei der Ausleihe arbeitet. Viele Eltern berichteten dort sorgenvoll darüber, dass ihr Kind kaum lese. "Wenn das daheim nicht vorgelebt wird, kann da schon ein Fremdelgefühl gegenüber Büchern entstehen", sagt Söylemez. Schullesen sei leider auch nicht sehr beliebt, und sich dann in der Freizeit noch mit etwas "Schulischem" zu beschäftigen daher für viele nicht attraktiv. Deshalb ist es ihr umso wichtiger, den Einstieg ins Lesen spielerisch zu finden - über Basteln oder Spiele, die etwas mit den Büchern zu tun haben. Auch das Umfeld in der Bücherei trägt sein Übriges dazu bei. Um konstantes Leseverhalten zu entwickeln, gehört viel Einfühlungsvermögen, das Roza Söylemez mitbringt: Sie erfragt die Interessen der Kinder und richtet sich danach.
Überhaupt - und auch das wird im Gespräch deutlich - machen die junge Frau Kommunikationsstärke und eine klare Haltung us. "Ich sage gern meine Meinung", gibt sie schmunzelnd zu. Dazu zählt auch, dass sie sich dafür einsetzt, ihre türkischen Mitmenschen zum Wählen zu motivieren. Bei der jüngsten Wahl in der Türkei, bei der sie ich offen gegen Erdogan positionierte, mobilisierte sie rund 30 Frauen aus der Nachbarschaft und fuhr mit ihnen - per Bahn in Gruppen und im Auto - zu den Konsulaten in Frankfurt und Mainz. Aber auch Integration st ein Schwerpunkt ihres Engagements - das hat sich zuletzt 2019 auch kreisweit ausgezahlt, als sie mit dem Come-Together- Preis des Kreises Groß-Gerau ausgezeichnet wurde, der Menschen mit esonderem Einsatz für Teilhabe, gegen Diskriminierung und für Chancengerechtigkeit auszeichnet. Vorgeschlagen hatte sie Eva Süßmilch. "Eine sehr große Ehre", sagt Söylemez bescheiden. Wie es bei ihr nach em Studium weitergehen soll, weiß sie schon recht genau: "Ich würde gerne mit jungen Erwachsenen arbeiten, vielleicht in der Volkshochschule oder im Frauenzentrum." Und der Leseclub? Bleibt natürlich Teil ihres ebens. "Ich kann mich nicht loslösen. Das funktioniert nicht. Ich mag's hier so sehr", sagt sie und lacht. Stella Lorenz Digitale Angebote geplant Noch pausiert der Leseclub Corona-bedingt, aber das Team arbeitet an igitalen Angeboten. Zu regulären Zeiten können alle Sechs- bis Zwölfjährigen den Leseclub in der Bücherei montags, dienstags und freitags von 13.30 Uhr bis 15.30 Uhr besuchen. "Einfach kommen", sagt Roza Söylemez.